La Familia

Angst vor der Wirklichkeit

Ob eine Situation gefährlich ist, erkennen Kinder häufig daran, wie ihre Eltern reagieren. Wie geben wir unserem Nachwuchs nun aber Sicherheit, wenn die Welt um uns herum verrückt spielt?

Mein Kind wird größer. Jeden Tag, jede Woche und jeden Monat ein gewaltiges Stück. Und gerade jetzt ganz besonders: T-Shirts, Hosen, Jacken und Schuhe passen plötzlich nicht mehr und auch in seinem Kopf brummt es gewaltig. Er stellt viele Fragen – will wissen, wie die Welt im Allgemeinen und das Leben im Besonderen funktionieren. Auffällig ist, dass in solchen Zeiten der Veränderung bei meinem 9-Jährigen oft ganz bestimmte Ängste hoch kommen. Dann hat er Probleme beim Einschlafen, schläft schlechter als gewöhnlich oder ist in manchen Situationen nur ungerne alleine. Das ist zunächst einmal nichts Ungewöhnliches – die meisten Kinder leiden gerade im Rahmen von Entwicklungssprüngen mehr oder weniger unter Angst.

Das “Magische Denken“

Kinderängste sind mächtig und unberechenbar, sie können plötzlich auftreteten und sind im Grunde allgegenwärtig. Dabei darf man die kindliche Vorstellungskraft aber auf keinen Fall mit dem Realitätsbewusstsein von Erwachsenen messen. Gerade kleine Kinder leben teilweise noch in einer Fantasiewelt. Sie fürchten sich vor Monstern, die in der Nacht unter ihrem Bett liegen, Hexen, die sich hinter dem Badezimmervorhang verstecken oder bösen Rittern, die ihnen hinter der Wohnungstür auflauern. “Magisches Denken“ bezeichnet man in der Psychologie diesen Moment der kindlichen Entwicklung.

Denn Kinder zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr glauben nun mal, dass alles, was sie sich wünschen und denken – Schönes wie auch Schreckliches – tatsächlich eintreten kann. Für Eltern kann das mitunter recht anstrengend sein, denn die Grenzen zwischen Realität und Fantasiewelt sind fließend. Und so kann es dann auch passieren, dass der Räuber aus dem Lieblings-Kinderbuch plötzlich am Frühstücktisch sitzt und mitessen will. Oder die gute Fee aus der Zeichentrickserie auf der Rückbank im Auto mitfährt und selbstverständlich einen eigenen Kindersitz braucht.

Wenn Kinderängste real werden

Ab dem 9. oder 10. Lebensjahr werden Kinder dann allerdings immer häufiger mit Realängsten konfrontiert. Denn erst jetzt sind sie eigentlich dazu in der Lage, sich mit bestimmten Themen auseinanderzusetzen. Naturkatastrophen, Unfälle und Kriege halten ihren Einzug in die kindliche Vorstellungswelt. Daraus entsteht viel Erklärungsbedarf.

Nehmen wir mal mein 9-jähriges Kind: Auch seine Angst ist leider sehr real. Er fürchtet sich vor Terroranschlägen und allem, was damit zusammenhängt. Diese Angst kommt nicht von ungefähr. Vor einigen Jahren gerieten wir bei einem Weihnachtsmarkt-Besuch gemeinsam in eine Massen-Panik. Beim Wechseln einer Gasflasche war eine Stichflamme entstanden. Es gab einen relativ lauten Knall, viele Leute erschreckten sich und versuchten fluchtartig den Weihnachtsmarkt zu verlassen. Mein Sohn war zu diesem Zeitpunkt gerade erst fünf Jahre alt. Aber er spürte – wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Leben – dass es Situationen gibt, die auch seiner Mutter Angst machen.

Kuscheln hilft fast immer

Wenig überraschend also, dass ihn seit diesem Tag das Thema Terror immer wieder beschäftigt. Mal mehr, mal weniger – aber so ganz hat ihn die tiefe Verunsicherung, die er an diesem Tag auf dem Weihnachtsmarkt gespürt hat, wahrscheinlich nie mehr verlassen. 73 Prozent der 10 bis 11-jährigen Kinder in Deutschland äußern die Angst vor einem Terroranschlag. Das ist das Ergebnis der 4. World Vision-Studie, bei der erst im vergangen Jahr 2500 Kinder zwischen 6 und 11 Jahren befragt wurden.

Um seine Angst aufzufangen, rede ich mit meinem Kind über den Terror: Wie wahrscheinlich ist es, dass unsere Familie von einem Terroranschlag getroffen wird? Warum werden Menschen zu Terroristen? Was wollen sie erreichen? Ich versuche ihm zu erklären, dass uns Terroristen – egal welcher Gesinnung – in Angst und Schrecken versetzen wollen. Und dass wir uns so etwas auf gar keinen Fall gefallen lassen dürfen. Meistens kuscheln wir dann ein bißchen. Das hilft fast immer.

Und es gibt Neuigkeiten: In letzter Zeit versucht er sich, seiner Angst auch rational zu nähern. Und deshalb wurde ich auch sofort aufmerksam, als er mir vor ein paar Tagen ankündigte, endlich einmal wieder ein “sehr interessantes Buch“ in der Schulbibliothek gefunden zu haben. Tatsächlich präsentierte er mir noch am selben Abend, kurz vor dem Schlafengehen, ein kleines Heftchen mit dem Titel: “Was geschah eigentlich mit den Twin Towers“? Auf eine neue Fragenflut habe ich mich bereits vorbereitet.


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